20.000 Meter über dem Meer
In unser aller Vorstellung werden Drohnen gemäß europäischer Vorgaben vorwiegend im Höhenband bis 120 Meter über Grund betrieben. In speziellen Fällen und in der gleichnamigen Kategorie dürfen UAS diese Höhenbegrenzung durchbrechen, wenn eine entsprechende Genehmigung vorliegt. In der Großindustrie denkt man jedoch weiter – beziehungsweise weitaus höher. Und es bleibt längst nicht mehr nur bei der Theorie. In diesem Jahr wurde sogar ein neuer Höhenrekord aufgestellt.
Von Jens Rosenow
Der britische Luftfahrt- und Rüstungskonzern BAE Systems beschäftigt 93.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in 40 Ländern rund um den Globus. Die Idee der Luft- und Raumfahrtingenieure: Eine unbemannte Plattform sollte erschaffen werden, die so hoch fliegt, dass sie dieselbe Konnektivität und Kameraperspektive hat wie ein Satellit. Ohne jedoch ins All gebracht werden zu müssen. Die Vorteile liegen auf der Hand. Die immens hohen Kosten für einen Raketenstart entfallen und ein sogenannter „High Altitude Pseudo Satellite (HAPS)“ ist beliebig über sämtlichen Regionen der Welt positionierbar. Zudem kann die Payload jederzeit ohne massiven Aufwand getauscht werden, was bei einem Satelliten ebenfalls unmöglich ist. Das „High Altitude“ in der technischen Bezeichnung ist dabei jedoch durchaus wörtlich zu nehmen. Denn ein unbemannter Pseudo-Satellit muss so hoch in der Stratosphäre unterwegs sein, dass er für herkömmliche Radartechnik nicht erkennbar sowie für mögliche (militärische) Abwehrmaßnahmen unerreichbar ist.
Enorme Tragflächen
Mit PHASA-35, einem ultraleichten und sogar solar-elektrisch betriebenen UAS, hat BAE dieses Ziel vorerst erreicht – und ganz nebenbei sogar einen neuen Höhenrekord für Drohnen aufgestellt. Die im Juni 2023 erreichte und durch Messung bestätigte Flughöhe betrug unglaubliche 20.117 Meter. In dieser Höhe findet kein ziviler Flugverkehr mehr statt und die Luftdichte ist bereits so gering, dass ein Luftfahrzeug schon enorme Tragflächen bei sehr klug berechneter Profiltiefe besitzen muss, um den notwendigen aerodynamischen Auftrieb erzeugen zu können. Dieser erwähnte Testflug dauerte 24 Stunden – mit Blick auf die mögliche Gesamtbetriebsdauer des innovativen Antriebskonzepts nicht mehr als eine kurze Spritztour.
BAE hat die Herausforderungen in einzigartiger Weise gelöst. Während die bekannten „High Altitude Long Endurance“-UAS wie zum Beispiel die Reaper von General Atomics „nur“ auf maximal 15.000 Meter Flughöhe kommen und spätestens nach 30 Flugstunden zum Auftanken landen müssen, kann es die PHASA-35 praktisch unbegrenzt in der minus 60 Grad kalten und sonnenstrahlungsungedämpften Höhenumgebung aushalten. Diese Fähigkeit basiert auf der Tatsache, dass das Fluggerät während des Betriebs den benötigten Strom über Solarzellen selbst erzeugt. Die Spannweite beträgt 35 Meter (daher die Namensgebung), die Flügelfläche generiert genug Energie, um nicht nur den Flug am Tag, sondern über die Zwischenspeicherung in den Akkus auch in der Nacht sicherzustellen. Um mit einem Gesamtgewicht von 150 Kilogramm für diese Einsatzhöhen im Rahmen zu bleiben, ist die Carbonhülle so dünn wie die Mine eines Bleistifts. Das System kann bis zu 15 Kilogramm Sensorik als Nutzlast transportieren sowie eine Geschwindigkeit von bis zu 143 Kilometer pro Stunde erreichen. Und das in einer herausfordernden Umgebung, in der der Luftdruck nur noch etwa 10 Prozent von dem entspricht, was wir hier unten auf der Erde gewohnt sind.
Die Spannweite von 35 Metern stand bei der Namensgebung der Drohne Pate
Markante Bauform
Das Besondere an der PHASA-35 sind allerdings nicht nur die ausgeklügelten Tragflächen, die in der Silhouette wie die Schwingen eines Adlers anmuten. Das UAS besitzt nahezu keinen richtigen Rumpf. Es ist vielmehr eine dünne Stangenstruktur, die vorne eine kleine Aufnahme für die Payload beherbergt und hinten ein Leitwerk trägt. Aufgrund dieser markanten Bauform besitzt die HAPS-Drohne auch kein Fahrwerk – für den Start rollt sie auf zwei großen Speichenstützrädern unter den riesigen Tragflächen an und wird dabei am Heck von einem kleinen Einzelrad gestützt. Direkt nach dem Abheben bleiben die Fahrwerke auf der Startbahn zurück. Das ergibt insofern Sinn, als dass ein eigenes Fahrwerk bei bis zu 365 Tagen Flugzeit ein vollständig unnötiger Ballast wäre.
Weil die atmosphärischen Bedingungen in der Regelbetriebshöhe so herausfordernd sind, mussten auch die Luftschrauben besonders geformt sein. Sie müssen für den Start in der Normalatmosphäre am Boden genug Leistung erzeugen und dürfen dort oben in der Stratosphäre kein aerodynamischer Bremsklotz sein. Der Wirkungsgrad der sogenannten Propellerblattsteigung muss so gewählt sein, dass die Luftschraube in beiden Flugphasen (Start am Boden und Streckenflug in der Stratosphäre) optimal arbeitet. Dabei muss auch die Tatsache beachtet werden, dass die PHASA-35 nach dem Start zunächst viele Stockwerke unseres irdischen Wetters durchqueren muss, bis sie ihre Reiseflughöhe erreicht hat, in der nahezu turbulenzlose Bedingungen herrschen. Dafür ist eine exakte Wetterkenntnis unabdingbar. Für stürmische Böen ist die filigrane Struktur des unbemannten Luftfahrzeugs auch denkbar ungeeignet – 35 Meter Tragfläche wirken da schnell wie ein Segel. Deshalb setzt der Flugbetrieb eine präzise Wettervorhersage voraus. Hat die PHASA-35 die Wetterzonen aber erst einmal unter sich gelassen, beginnt quasi der ruhige Teil der Mission.
Zwischenergebnis
Viel ist über das elektronische Innenleben des UAS nicht bekannt. Dem Vernehmen nach überwacht die Flight Control alle Daten der Drohne bis zu vierhundert mal in der Sekunde und ist über eine eigene, zunächst noch nachgeführte Signalstrecke mit einer Bodenstation verbunden, die die Systemdaten, Livebilder der Kamera, Flugzustände und Telemetriedaten auf bis zu zehn verschiedenen Bildschirmen darstellt. Bei dem bereits erwähnten Rekordflug wurden die Leistungseinstellungen der Motoren noch manuell über Schubregler gesteuert. Ein Zeichen dafür, dass das System noch einen gewissen Weg zumindest bis zur automatischen Entwicklungsreife vor sich hat. „Es ist ein komplett anderer Ansatz für die Luftfahrt als alles, was wir bisher kennen“, erklärte einer der Projektleiter von BAE Systems bei der Pressevorführung des Erstfluges im vergangenen Sommer. „Wir können über einem Gebiet für Wochen und Monate ununterbrochen fliegen und unseren Auftrag erfüllen“, hieß es weiter.
„Wir werden die Stratosphäre schon bald flugbetrieblich erobern. Und wir sind nur sehr, sehr schwer zu sehen“, zitierte das Wall Street Journal Dave Corfield, Chef der BAE-Entwicklungsabteilung. Doch der Weg bis zu diesem Ziel war und ist auch noch sehr weit. Inspiriert sein dürfte das Projekt von BAE durch die berühmte Solar Impulse der beiden Forscher Bertrand Piccard und André Borschberg aus der Schweiz, die 2009 erstmals mit einem Flugzeug mit enormen, Solarzellen-belegten Tragflächen abhoben und drei Jahre später nonstop rein strombetriebene Langstreckenflüge absolvierten.
Da ein Fahrwerk auf Langzeitmissionen nur unnötiger Ballast wäre, erfolgt der Start von einem „fahrbaren Untersatz“ aus
Verwandte Projekte
Die Entwicklungshistorie der PHASA-35 weist zudem Parallelen mit der Zephyr-Drohne des britischen Startups Qinetiq auf. Auch dieses HAPS-UAS wurde als kostengünstiger Ersatz für teure Satelliten entwickelt. Als das Zephyr-Projekt vor 10 Jahren von Airbus Defence and Space aufgekauft wurde, verließ die Mehrzahl der einstigen Entwicklungsingenieure die Firma und gründeten ihr eigenes Unternehmen namens Prismatic, um ein neues, noch effizienteres Konkurrenz-UAS zu entwickeln. Zunächst als sogenanntes Viertelmodell, also im Maßstab 1:25. Es dauerte insgesamt fünf Jahre, bis PHASA-35 lebensgroße Wirklichkeit wurde und nochmal ein weiteres Jahr, bis das UAS im Jahr 2019 erstmals abhob. Die Leistungsfähigkeit des Projektträgers war für BAE Systems vielversprechend genug, um Prismatic schließlich zu übernehmen. Somit existieren nun also zwei verschiedene HAPS-Drohnen unter jeweiliger Kontrolle eines Großkonzerns, die aber beide dieselbe Entwicklungs-DNA in sich tragen.
Diese Besonderheit trägt der Tatsache aber keinen Abbruch, dass der zukünftige Bedarf an Aufklärungsdrohnen in Höhen knapp unterhalb der Ozonschicht enorm sein dürfte. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat bereits gezeigt, dass Drohnen die Electronic Warfare in ganz neue Dimensionen pushen. Während Satelliten nur mit großen Umlaufpausen dieselbe Region erneut überfliegen können, sind Drohnen schnell und in der Bildqualität präzise genug, um auch kurzfristig militärische Entscheidungen auf solider Datenbasis zu ermöglichen. Wenn man bedenkt, dass zum Beispiel in der Ukraine eine niedrig fliegende, herkömmliche Drohne in Aufklärungsmissionen im Durchschnitt gerade mal zehn Flüge überlebt, bevor sie vom jeweiligen Gegner neutralisiert wird, dann bekommt eine dauerhaft hochfliegende Plattform wie die PHASA-35 eine ganz neue strategische Bedeutung. Adhoc verfügbare Aufklärungsdaten einer Drohne sind in einer militärischen Auseinandersetzung Gold wert und die PHASA-35 wird ihren Teil dazu beitragen, dass sich die Aufklärungsfähigkeiten noch deutlich weiterentwickeln werden.
Überblick
Doch auch der zivile Sektor wird HAPS-Plattformen im positiven Sinne zu spüren bekommen. Man denke an den Katastrophenschutz. Bei fehlender Kommunikationsinfrastruktur nach einem Erdbeben könnte ein ultrahoch fliegendes UAS mit relativ wenig Aufwand und Sendeleistung ein riesiges Gebiet mit Line-of-Sight-Funkstrecken versorgen. Kartografie und Vermessung sind weitere Anwendungsgebiete, die aus einer so großen Höhe definitiv neue Optionen erfahren dürften. Noch immer gibt es viele Regionen in der Welt, die kaum oder nicht verlässlich geografisch erschlossen sind. Beispielhaft sei Indien erwähnt, das für sein Staatsgebiet bis heute keinerlei Katasterregistraturen führt und dies nun nachholen möchte. Aus 20.000 Metern Flughöhe gäbe es da also noch viel zu tun.
Bilder: BAE Systems