Aktualisierte Megatrend-Dokumentation vorgelegt
Man kann auf Glaskugeln, Tarot-Karten oder den Kaffeesatz setzen, wenn es um einen Blick auf das Kommende geht. Oder man geht das Ganze wissenschaftlich an. Beim Zukunftsinstitut in Frankfurt am Main, einem der nach eigenen Angaben einflussreichsten Think Tanks der europäischen Trend- und Zukunftsforschung, denkt man diesbezüglich in Megatrends. Einer Kategorie, mit der komplexe Veränderungsdynamiken im menschlichen Zusammenleben wissenschaftlich beschrieben werden sollen. Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie hat das Institut nun eine aktualisierte Megatrend-Dokumentation vorgelegt, die eine Grundlage für Entscheidungen in Wirtschaft, Politik und auf persönlicher Ebene sein will. Innerhalb der zwölf Hauptkategorien (Megatrends) Individualisierung, Gender Shift, Silver Society, Wissenskultur, New Work, Gesundheit, Neo Ökologie, Konnektivität, Globalisierung, Urbanisierung, Mobilität und Sicherheit sucht man das Thema Drohnen jedoch vergeblich. Dr. Stefan Carsten ist Mobilitätsexperte im Zukunftsinstitut und beschäftigt sich daher nicht zuletzt auch mit der Frage, wie unbemannte Systeme unsere Zukunft beeinflussen werden. (Lese-Tipp: „Future-Making-Lab – Wir gestalten unsere Zukünfte selbst!) Im Gespräch mit der Drones-Redaktion erklärt er, was genau Megatrends eigentlich sind – und warum Drohnen nicht dazugehören. Drones fragt nach.
Von Jan Schönberg
Drones: Flugtaxis, Lieferdrohnen, medizinische Transporte: Drohnen sind auf vielfältige Weise medial präsent und werden in zahlreichen Wirtschaftszweigen bereits tagtäglich eingesetzt. Das ökonomische Potenzial für die Drone-Economy scheint gigantisch. Warum sind Drohnen dennoch kein Megatrend?
Dr. Stefan Carsten: Mobilität ist ein sozio-technisches System par excellence. Immer wieder betreten technische Innovationen die Bühne, die, medial gehypt, sehr viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen: Elektromobilität, autonome Mobilität oder Sharing-Services sind nur drei Beispiele dieser Aufmerksamkeitsökonomie. Die Auswirkungen dieser Entwicklungen zeigen sich mitunter erst nach vielen Jahren technischer, politischer und vor allem sozialer Eingebundenheit. Vor diesem Hintergrund muss auch die weitere Entwicklung von Drohnen kritisch beobachtet werden. Welche technischen Systeme setzen sich für welches Anwendungsszenario durch? Wie werden sich die politischen Bedingungen ändern? Wie reagiert die Gesellschaft auf ein System, das einen extremen Energieaufwand bedeutet und darüber hinaus auch einen wichtigen Einfluss auf die Sicherheitsdebatte haben wird? Die Zukunft einer Drone-Economy ist vor diesem Hintergrund noch sehr offen.
Was macht aus einem Trend denn einen Megatrend?
Megatrends benennen und beschreiben extrem komplexe Veränderungsdynamiken und sind ein Modell für den Wandel der Welt. Das Zukunftsinstitut arbeitet seit vielen Jahren erfolgreich mit seinem Modell der Megatrends. Mit ihm gelingt es, die globalen Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft greifbar zu machen. Es gibt klare Kriterien, um Megatrends zu erkennen und zu definieren.
Und die wären?
Da wäre zunächst die Dauer. Megatrends haben eine Dauer von mindestens mehreren Jahrzehnten. Zu beachten ist auch die Ubiquität. Das bedeutet, dass Megatrends Auswirkungen in allen gesellschaftlichen Bereichen, in der Ökonomie, im Konsum, im Wertewandel, im Zusammenleben der Menschen, in den Medien, im politischen System und dergleichen zeigen. Megatrends sind zudem globale Phänomene. Auch wenn sie nicht überall gleichzeitig und gleich stark ausgeprägt sind, so lassen sie sich doch früher oder später überall auf der Welt beobachten. Und last but not least wäre da die Komplexität. Megatrends sind vielschichtige und mehrdimensionale Trends. Sie erzeugen ihre Dynamik und ihren evolutionären Druck auch und gerade durch ihre Wechselwirkungen. Megatrends „entstehen“ also weniger als dass es um die Beobachtung langfristiger Entwicklungen mit großer Relevanz für alle Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft geht, die sich mit hoher Verlässlichkeit in die Zukunft „verlängern“ lassen. Megatrends werden also nicht erfunden oder ausgerufen, sie sind das konzentrierte Ergebnis der systematischen Beobachtung, Beschreibung und Bewertung neuer Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft. Trends zu analysieren bedeutet immer auch, frühzeitig ihre Auswirkungen zu benennen – auf Branchen, Unternehmen und Märkte, letztlich aber auch auf jedes einzelne Individuum.
Also beobachten Sie viele Trends und Ihre Aufgabe ist es dann möglichst vorausschauend zu identifizieren, aus welchen der vielen temporären Strömungen sich am Ende ein dauerhafter Megatrend entwickeln wird, der unser aller Leben beeinflusst. Haben Sie da einen siebten Sinn? Oder wie gelingt das?
Die systematische Identifizierung und Bewertung von Trends ist nur möglich über verschiedene methodische Zugänge. Neues lässt sich anfangs oft nur in Form qualitativer Beobachtungen und der Deutung sogenannter Weak Signals erkennen: schwacher Signale, deren Muster es sinnvoll und plausibel zu interpretieren gilt. Echte Trends entstehen dann, wenn sich gesellschaftliche, wirtschaftliche oder technische Phänomene oder Innovationen aus gesellschaftlichen Randbereichen oder Nischen heraus in die gesellschaftliche Mitte hineinbewegen. Und sie entstehen, wenn neue Phänomene eine höhere Relevanz bekommen und kleine Avantgarden das Potenzial entwickeln, den Mainstream zu verändern – in Lebensformen oder Familienmodellen, in der Mediennutzung, im Konsumverhalten, in der Arbeitswelt, bei technologischen Anwendungen oder in einzelnen Branchen.
Denkt man an Drohnen, so kommen einem oft vor allem fliegende Systeme in den Sinn. Doch es gibt sie ja nicht nur in der Luft. Wie schätzen Sie die Bedeutung unbemannter Systeme im Allgemeinen für unsere Zukunft ein?
Die Zukunft der autonomen Mobilität wird einen signifikanten Einfluss auf die Zukunft der Mobilität haben. Schon seit vielen Jahren werden autonome Autos getestet und sind noch immer nicht annähernd bereit für den praxisnahen Einsatz. Delivery Bots bewegen sich seit Jahren auf Straßen und Fußgängerwegen und werden die Logistik der letzten Meile dramatisch verändern. Auf diese Weise werden Taxi-, Kurier- oder Busfahrer über kurz oder lang obsolet. Auch wenn diese Zukünfte relativ absehbar sind, realisieren sie sich doch erst ab dem Jahr 2030, da auch hier noch mehr Frage offen sind als es den Akteuren lieb ist. Trotzdem brauchen wir einen gesellschaftlichen Diskurs über diese Einflüsse im Hier und Jetzt, da die langfristigen Folgen dramatisch sind.
Inwiefern wird die sich entwickelnde „Urban Air Mobility“ aus Ihrer Perspektive eine nennenswerte Rolle im künftigen Mobilitätsmix spielen? Werden wir wirklich bald regelmäßig mit Flugtaxis unterwegs sein?
In Europa werden wir auch in Zukunft nicht mit Flugtaxis unterwegs sein. Die räumlichen Bedingungen und die Ausstattung mit öffentlichen und privaten Mobilitätsdiensten wird eine starke Verbreitung verhindern. Anders sieht dies in Nordamerika oder den Golfstaaten aus: lange, ausufernde Distanzen, eine Vielzahl an sehr wohlhabenden Akteurinnen und Akteuren sowie eine hohe technische Innovationskultur werden interessante Nutzungsszenarien eröffnen. Aber auch hier werden Flugtaxis mit alternativen Mobilitätstechnologien konkurrieren, die derzeit in der Erprobung sind, zum Beispiel Hyperloop.